Zum Tod von Hansjörg Zauner,
Schriftsteller, Künstler und mein Modell

Veröffentlicht in „Literatur und Kritik“, Nr. 521/522, erweitert; März 2018

 

Nach dem Tod von Hansjörg Zauner am 30. Juni 2017 versuchte mein Mann, seine Erinnerungen an ihn in Worte zu fassen, was ihm nur teilweise gelang, da er Hansjörg Zauner fast ausschließlich von meinen gelegentlichen Erzählungen kannte. Seine Beharrlichkeit diesbezüglich erstaunte und interessierte mich.

Bei einer Herbst-Wanderung durch den Wald schlug er mir wieder einmal vor, einen Text über Hansjörg zu schreiben, bevor die Erinnerung an ihn verlorengehen würde. Kaum jemand hätte ihn so gut gekannt wie ich – meinte er. Ich habe ihn in zehn Jahren hundert Mal gemalt, das ist genug – meinte ich…

Von Leuten, die Hansjörg nicht kannten, wurde ich gefragt: ist dein Mann nicht eifersüchtig, wenn du dich in deiner Arbeit derart intensiv mit einem anderen Mann auseinandersetzt? während Freunde, die Hansjörg kannten, fragten: wie hältst du das nur so lange aus?

Da unser Sohn noch im Tragetuch gesessen ist, muss es 2003 gewesen sein, als ich mit Hansjörg Zauner bekannt gemacht wurde. Es stellte sich heraus, dass er in dem Haus wohnte, in dem sich neuerdings mein Atelier befand und wir trafen uns danach öfter zufällig im Stiegenhaus. Als ich auf der Suche nach einem Modell war, vermittelte er mir eine Freundin, bei der er Shiatsu nahm.

Nach zwei Jahren übersiedelte diese nach Brüssel, ich war auf der Suche nach einem neuen Modell und um die Zeit zu überbrücken, habe ich Hansjörg zu einem Portrait eingeladen, das ich ihm danach geschenkt habe. Erst einige Zeit danach hatte ich die Idee, ein großes Bild von ihm zu malen. Er war sofort dafür. Nimm dir alle Zeit der Welt, meinte er, als er für dieses Bild drei Monate lange Modell sitzen musste, bis es endlich fertig war. Mit dem Bild hat sich die Idee für ein weiteres Bild entwickelt: diesmal eine andere Farbe, eine andere Haltung, ein anderer Hintergrund…

Die Sitzungen verliefen immer gleich und Hansjörg war es wichtig, einen vereinbarten Termin einzuhalten, auch wenn ich Kopfweh hatte oder es aus irgendwelchen Gründen momentan ungünstig war. Da ich zu Beginn unserer Zusammenarbeit nur die Zeit zur Verfügung hatte, in der meine Kinder im Kindergarten waren, haben die Sitzungen zehn Jahre lange von 09:15 bis 12:00 gedauert. Ich musste am Weg zu meinem Atelier an seiner Wohnung vorbei, wo er dann schon hinter der Türe sitzend und an seinen Texten korrigierend auf mich gewartet hat. Sehr oft sollte ich dann noch in seine Wohnung (20m² mit kaltem Wasser und Klo am Gang) kommen, um neue bildnerische Arbeiten zu betrachten, von denen Dieser und Jener schon ganz begeistert gewesen sei. Das waren vor allem Fotos und Collagen, die vorwiegend um das Thema Selbstportrait kreisten, weiters gab es eine Serie von Nachtaufnahmen fahrender Autos, deren Lichter durch Mehrfachbelichtungen und Verwackeln der Kamera wie expressive Lichtzeichnungen wirkten. Solange seine Arbeiten aktuell waren, hat er sie auf seinem Esstisch gleich vis á vis der Eingangstüre in seinem Küchenraum wie auf einem Altar aufgebaut. Danach wurde alles in seinem Wohn-Schlaf-Arbeitsraum in Säcken, Mappen oder Stapeln gelagert. Nachdem der Raum unter seinem Bett mit Kunst bereits ausgefüllt war, blieben die Säcke einfach nur mehr am Boden stehen – neben anderen Säcken mit Schmutzwäsche, die auf den nächsten frühmorgendlichen Ausflug zum Waschsalon gewartet haben. Kam man also von der schmalen, sonnigen, südseitigen Küche durch den bunten, rasselnden Kettenvorhang aus Plastik (gekauft im SEWA um € 10.-) in den nordseitigen Schlaf-Wohnraum, gab es dort einen Weg zum Bett mit einer Abzweigung links zum Schreibtisch, auf dem ein großer Lebensbaum seine fleischigen Blätter verlor, und eine weitere Abzweigung rechts vorbei an CD-Ständern und meterhohen Türmen von ausgedrucktem Papier, zu dem einzigen Fenster, das in dieser Wohnung unverstellt war und geöffnet werden konnte, mitunter auch, um die Bettdecke in die frische Luft zu hängen, damit sie weniger oft gewaschen werden musste. Die Türme von Ausdrucken waren seine gestapelten Text-Korrekturen, über denen er täglich, sofort nach dem Aufstehen um 6:00 früh in seinen roten Bademantel gehüllt gesessen ist, noch bevor er sich heißen Orangensaft und eine Kanne Filterkaffee zubereitet hat…

Ich musste mich meistens überwinden, in diese Wohnung hineinzugehen, weil ich die Luft darin nicht einatmen wollte. Mein Zögern hat ihn geärgert: wieso bleibst du immer vor der Türe stehen? Wegen mir ist im Winter warme Luft in den Gang entwichen, wo er doch mit dem Heizen so sparsam war.

Während er sich danach in meinem Atelier an den Tisch setzte, um zu berichten, was sich seit unserer letzten Sitzung ereignet hatte, habe ich schnell Kaffee gekocht, wobei er ungehalten reagierte, wenn ich zu lange mit dem Rücken zu ihm gestanden bin. In den ersten Jahren wollte er zum Kaffee einen Teller voll verschiedener Schokoladen, die er ziemlich gierig aufgegessen hat. Dabei wurden Erinnerungen an Süßigkeiten in seiner Kindheit wach, wie an eine Schachtel voller Schokobananen, die er auf einen Sitz aufgegessen hat. Ein Rest der Schokolade war dann als Rand an seinem Mundwinkel zu sehen, und da er während des Erzählens immer heftig gestikulierte, war der Boden rund um seinen Sitzplatz mit Schokolade verbröselt. Nach ein paar Jahren wollte er lieber einen Krapfen zum Kaffee haben, und während der letzten Zeit gar nichts mehr. Manchmal habe ich ihm Lebensmittel geschenkt, und besonders zu Anlässen wie Geburtstag oder Weihnachten gab es einen Sack ausgesuchter Premium-Waren und Delikatessen, die er – so sie nicht in den Kühlschrank gehörten – wie seine Kunst auf dem Esstisch für einige Tage ausgestellt hat. Aber ich habe ihn nie als Modell bezahlt.

In meinem Atelier sitzend kam dann unweigerlich die Frage: wer, meinst du, hat gestern angerufen? Um mir beim Raten zu helfen, gab er Hinweise wie: Eine, die sich nur ganz selten meldet, oder: du kennst ihn auch. Diese Art von Fragespiel habe ich gehasst, nicht zuletzt, weil dieses Spiel nur er spielen durfte, er wäre bis zuletzt nicht in der Lage gewesen, die Namen meiner Kinder oder meines Mannes zu nennen.

Nebenbei habe ich dann begonnen, auf die Uhr zu schielen, denn nach einer dreiviertel Stunde konnte ich ihn in seine Position setzen und mit dem Malen beginnen. Eine dreiviertel Stunde hat es auch gedauert, bis im Winter das Atelier warm genug war, um zumindest die Socken auszuziehen, damit ich beispielsweise mit dem Malen der Füße beginnen konnte.

Inzwischen gingen seine Ausführungen weiter. Wenn ich Pech hatte, berichtete er bis zu eine Stunde lang, in welchem Supermarkt gerade welches Sonderangebot zu kaufen sei, was er sich heute nach der Sitzung wie kochen würde, was er sonst noch gerne essen wollte, mit wem er wo was gegessen habe, und wie teuer oder billig das gewesen sei. Gute, gesunde Lebensmittel waren ihm wichtig, und er hat jeden Tag zumindest eine Kleinigkeit für sich gekocht, während er Alkohol nur am Abend in Lokalen konsumierte – am liebsten in seinem Stammlokal, dem Rhiz. Er führte aus, wie oft er derzeit ins Rhiz gehen könne, wie viel Bier er sich dort erlaube oder wer ihn auf ein Bier eingeladen habe… Dann wollte er oft Rat für künstlerisch-praktische Belange, z.B. wo zurzeit die günstigsten Spiegel zu kaufen seien, um daraus Scherben für seine Collagen herstellen zu können. Er hat berichtet, welche neuen Lokale es in der Nähe gebe und in welchem er gerne ein Mittagsmenü ausprobieren und wie viel das kosten würde, wenn er dazu nur ein Glas Wasser bestellen könnte. Wann er dafür wieder einen Fasttag oder einen ein-Euro-Tag einlegen würde. Und dass er schon um 6:00 früh im Waschsalon war, weil um diese Zeit noch wenig los ist, wer sich um diese Zeit dort aber trotzdem schon einen Kaffee holt… und wann es für ihn einen Termin für Shiatsu gibt, der hoffentlich nicht wieder verschoben wird. Da es in seiner Wohnung weder eine Dusche noch warmes Wasser gab, musste vor Shiatsu noch für den Besuch des Tröpferlbads Zeit sein…und um 19:00 musste er zu Hause sein, um jeden Tag die „Lindenstrasse“ sehen zu können, auch wenn es bereits die Wiederholung der Wiederholung war. Dabei wurde mir die Zeit lang und ich schielte manchmal zur Uhr, um zu sehen, wie lange diese Sitzung noch dauern würde.

Besser war die Stimmung, wenn er darüber berichtete, welche Preise ihm bereits verliehen worden waren und welche er gerne noch bekommen würde. Wer welchen Preis bekommen hat, obwohl er oder sie ihn gar nicht verdiente. Mein Part dabei war, super zu sagen oder: den bekommst du bestimmt auch noch. Ein Erfolgserlebnis konnte seine Stimmung für ein paar Wochen heben, im Grunde fühlte er sich aber immer benachteiligt und übergangen.

Was mich von Anfang an faszinierte, war diese Sicherheit, mit der er sich als Künstler begriffen hat, die Beharrlichkeit, mit der er seine tägliche künstlerische Arbeitsroutine vollzog und auch seine Begeisterung über Erfolge, obwohl seine Bücher kaum gelesen wurden und bei seinen Lesungen gegen Ende seines Lebens hin fast kein Publikum mehr anwesend war. Von seinem künstlerischen Eigensinn habe ich viel für meine eigene künstlerische Entwicklung gelernt. Er war begeistert über das „typisch Zaunerische“ in seiner Sprache und war stolz auf seinen Anklang bei Frauen, wenn er bei seinen Lesungen mit seinem rosa Overall bekleidet als „rosaroter Panther der österreichischen Literaturszene“ auftreten konnte. Nur ein einziges Mal hörte ich ihn bedauernd sagen: ich würde ganz andere Texte schreiben, hätte ich in meinem Leben in einer Beziehung gelebt.

Wirklich gelungen fand ich die Sitzungen, in denen er irgendwann zum Thema Familie oder Liebe fand oder ich ihn dahin lenken konnte. Da kam er auf die Idee, seine diversen Buchtitel auf Kellnerinnenschmerzen1, Kellnerinnenschmerzen2…umzubenennen oder er begann Gedichte von Bachmann oder Neruda zu zitieren. „Die Geliebte“ war überhaupt eine Kategorie für sich. Ihretwillen hat er auf die Mindestsicherung verzichtet, denn um bezugsberechtigt zu sein, hätte er sein Haus in Obertraun, das er von seiner Mutter geerbt hat, verkaufen müssen. Das wäre für ihn aber nicht in Frage gekommen, obwohl er nie gerne nach Obertraun gefahren ist, eher nur aus Pflichtgefühl. Denn hatte er in Wien seine Fixpunkte, wie den Bäcker, den Weltladen oder das Rhiz, wo man ihn kannte und er Aufmerksamkeit bekam, so „exerzierte“ er (wie er es nannte) in Obertraun seine Einsamkeit. Zudem wollte das Haus regelmäßig repariert werden, wofür er selbst kein Geschick hatte, also war er auf unverlässliche Handwerker angewiesen, die ihm eine Menge Stress verursachten. Das Haus fraß Geld, das er voll Sorge vom Sparbuch nehmen musste. Und den Garten, in dem früher Pfingstrosen blühten, musste er zumindest einmal im Jahr widerwillig sensen. Aber das Haus musste jedenfalls erhalten werden, weil die Geliebte, die es irgendeinmal geben würde, ihn für dieses Haus schätzen und die Zweisamkeit in diesem Haus genießen würde…

In seinen wenigen Erinnerungen beschrieb sich Hansjörg als einsames, schüchternes, emotional vernachlässigtes Kind. Sein Vater interessierte sich weder für ihn, noch bezahlte er für ihn Alimente. Es gab nur zwei oder drei kurze Treffen mit ihm, und als einziges Geschenk eine abgelaufene Tafel Schokolade… Hansjörgs alleinerziehende Mutter hatte keine Zeit, etwas mit ihm zu unternehmen, und konnte auch am Abend nicht bei ihm sein, da war die Wohnung abgesperrt und er weinte hinter der verschlossenen Türe, bis er traurig und alleine ins Bett ging, während die Mutter im Gasthaus an der Kassa saß… Da war ein Opa, der „daneben ton hot“, der dieselbe Rechtschreibschwäche hatte wie Hansjörg, weshalb er der Oma die Abschiedsbriefe an seine Ex-Geliebten diktieren musste… Seine Mutter, die aufgrund ihrer Tüchtigkeit das Angebot bekam, in die Schweiz zu gehen, das aber ablehnte, weil sie ihren Bruder in der Obertrauner Fleischerei nicht im Stich lassen wollte… Und dann Hansjörg, der im Sommer beim Servieren half, während die anderen Kinder Ferien hatten, und der so schnell servierte, dass er von einem Gast als Nachwuchstalent für Leichtathletik entdeckt wurde… Hansjörgs Leben als Schüler in der Hauptschule B-Zug, wo ihm ein Lehrer drohte, er müsse zur Strafe in der heißen Sonne stehen, bis ihm schwarz vor den Augen würde… Hansjörg, der nach einer Ohrfeige von seiner Mutter die Nerven verlor und mit Baldriantropfen wieder beruhigt werden musste. Der mit seiner Mutter in Wien in die Oper ging, wo er von der Loge aus auf das Publikum hinunterspuckte… Seine Cousinen, die im selben Haus wohnten, mit denen er gerne wie mit Geschwistern aufgewachsen wäre, was seine Tante jedoch verhinderte, er durfte nicht mit ihnen spielen und musste nach der Schule alleine zur „Tante Hö“ essen gehen. Tante Hö habe ihn leider nur verwöhnt, ihm alles durchgehen lassen und ihn mit Süßigkeiten gefüttert, während seine Mutter in der Fleischerei gearbeitet hat. Kam er dann nach Hause, bekam er schwarzen, kalten Kaffee zu trinken… Und dann noch der Krampus, den er am Ehering als unecht erkannte und schließlich all die traditionellen Feste in Obertraun…

Sitzungen mit solchen Themen vergingen schnell, und wenn ich ihn dann um 12:00 unterbrechen musste, um meine Kinder abzuholen, fand er es schade: was, so spät ist es schon? Während solcher Sitzungen hatte ich gute Ideen für meine Malerei, das Arbeiten war spannend und ich habe mich auf die nächste Sitzung gefreut, die dann aber möglicherweise gar nicht gelungen war, weil er dann alles besser wissen wollte und beim kleinsten Einwand meinerseits aggressiv in die Höhe gegangen ist, als könne er es kaum fassen, wie dumm ich war. Zum Selbstschutz reduzierte ich meinen Gesprächsbeitrag gegen Ende unserer Zusammenarbeit daher, so es möglich war, auf aha, hm oder gut und super.

Nach jeder Sitzung warf Hansjörg im Vorbeigehen einen kurzen Blick aus dem Augenwinkel auf mein Bild, es hat ihn aber nie interessiert, was und wie ich ihn male, und wir haben auch nie über meine Arbeit gesprochen. Ich vermute, meine Malerei entsprach nicht seinem Begriff von Avantgarde, beziehungsweise war sie ihm vielleicht auch zu nahe und er wollte sich selbst nicht vorgeführt sehen. Ihn hätte interessiert, wie viele Bilder es schon sind, da mir das aber egal war, habe ich sie erst nach seinem Tod gezählt.

Gegen Ende seines Lebens bemerkte er immer häufiger besorgt: meine Kontakte verdünnen sich. Er litt unter seiner Einsamkeit, die um Weihnachten am schlimmsten war. Immer wieder überlegte er, zu Weihnachten Schlaftabletten zu nehmen, um das Fest verschlafen zu können…

Auch unsere Sitzungen reduzierte ich während der letzten zwei Jahre von einmal wöchentlich auf zwei Mal monatlich, da seine Figur nur mehr einen kleinen Teil in meinen Bildern einnehmen sollte, während die Einrichtungsgegenstände meines Ateliers und insbesondere eine Luftmatratze als seine Gegenspieler mehr Platz auf der Leinwand beanspruchten. Mit dem Jahreswechsel 2016/17 habe ich unsere Zusammenarbeit dann beendet. Ihm das mitzuteilen war schwierig, und ich habe es lange vor mir hergeschoben, aber meine Aggression gegen ihn und seine Präsenz in meinen Bildern wurde zu groß. Gekränkt zog er sich daraufhin zurück, bis er innerhalb weniger Wochen so schwach war, dass er seine Wohnung nicht mehr verlassen konnte und Hilfe beim Einkaufen benötigte. Da wurde es mitunter täglich nötig, bei ihm vorbeizuschauen, um zu sehen, wie es ihm geht und ihn zu ermutigen, das Bett zu verlassen und aus dem Haus zu gehen, um körperlich nicht zu sehr abzubauen. Ich hatte den Eindruck, dass er körperlich gesund war, aber wie ein Kleinkind versorgt werden wollte, und zwar hauptsächlich von mir, denn sonst schien kaum jemand mehr da zu sein. Aber ich wollte keine Mama für ihn sein, und meine Hilfe war auf das Nötigste reduziert. Wenn ich auf seine Aussage: ich habe ja niemanden mehr außer dir, Vorschläge machte, dort und da Hilfe zu holen, lehnte er strikt ab: „Nur eine Erfolgsmeldung oder die Zusage für ein Staatsstipendium würde mir nochmals Kraft geben.“ Nach dem Tod bräuchte er keinen Erfolg mehr. Die lebenden Künstler müssten unterstützt werden, nicht die Toten.

Im Juni 2017 stürzte er nachts am Weg zur Toilette in seiner Küche und brachte dabei sämtliches Geschirr aus dem Abtropfkorb zu Bruch. Nachdem ich am nächsten Tag die Scherben notdürftig beseitigt habe, versprach er, in Zukunft zum Klo-gehen das Licht aufzudrehen. Ein paar Tage später verabschiedete ich mich von ihm, weil ich zu einem Symposium nach Salzburg eingeladen war. Wer weiß, ob wir uns danach nochmals sehen werden, meinte er. Bestimmt, habe ich gesagt, das wird schon wieder. Wenige Tage danach stürzte er in seiner Wohnung nochmals, wobei sein Oberschenkelhals brach. Wenige Stunden nach der erfolgreichen Operation ist er – ich vermute aus Schwäche (angeblich hat er sich an Erbrochenem verschluckt) – im Alter von 57 Jahren gestorben. Am Tag davor bekam er noch eine Absage für ein Staatsstipendium, wurde mir erzählt.

Bei seinem Begräbnis in Obertraun lernte ich seine Cousine kennen, die das Bild vom armen, einsamen kleinen Hansjörg nicht stehen lassen wollte: er kann als kleines Kind gar nicht alleine in der Wohnung gewesen sein, weil bis zu seinem siebten Lebensjahr die Oma ebenso dort gewohnt hat. Und bei allen Ausflügen waren seine Cousinen immer mit dabei, jeder im Dorf hätte gedacht, sie wären Geschwister gewesen. Nach der Schule war sie auch mit bei der Tante, um zu Essen und die Hausaufgaben zu machen und überhaupt wäre Hansjörg aufgewachsen wie ein Prinz, braungelockt habe er auch so ausgesehen. Alles, was ein Kind seiner Zeit an Spielzeug haben konnte, habe er gehabt. Alle Geburtstage der Familie wurden an Hansjörgs Geburtstag auf einmal gefeiert, und es gab immer nur Hansjörgs Lieblingstorte.

Der Bürgermeister erinnerte sich in seiner Grabrede an eine Episode des Indianer-Spielens, in der Hansjörg von den Buben an einen Baum gefesselt wurde, rund um ihn hatten sie Strohballen platziert, die dann angezündet wurden, bevor die Buben davonliefen. Hansjörg habe erbärmlich um sein Leben geschrien, bis zum Glück eine Frau vom Ort gelaufen kam, um ihn zu befreien.

Dass er als Kind gemobbt wurde, hat mir Hansjörg nie erzählt.

 Judith Zillich